Vorgeschichte
Verstärkt durch die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung im Deutschen Reich im Jahr 1883 hatte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts die medizinische Versorgung der breiten Bevölkerungsschichten, die bis dahin zumeist unter- oder gar nicht ärztlich versorgt waren, über das Krankenkassenwesen schrittweise verbessert. Mittelpunkt war der Haus- und Familienarzt, der direkt vom Patienten bezahlt wurde, da seitens der Krankenkassen anfänglich nur finanzielle Unterstützung gewährt wurde. Daneben bestanden im Zuge der fachärztlichen Ausdifferenzierung gegründete, meist fachspezifische Polikliniken in Form öffentlicher, mit Studien- oder Lehrinteressen verbundener Ambulanzen, in denen mittellose Patienten mit besonderen Krankheiten kostenlos behandelt wurden.
Die Begriffe Poliklinik, Ambulanz und Ambulatorium wurden bis in das 20. Jahrhundert hinein synonym verwandt. Dies änderte sich erst in den 1920er Jahren, als zwischen Krankenkassen und Ärzteschaft in Berlin ein umfassender Streit um die Arzthonorare und die Frage, ob den Kassen ein Kontrollrecht bezüglich der Behandlungen zukomme, eskalierte. Woraufhin die Ärzteschaft die inzwischen als Fortschritt eingeführte Behandlung auf Krankenschein einstellte und stattdessen wieder die Barzahlung verlangte. Die Krankenkassen reagierten mit der Errichtung von eigenen Behandlungsstätten, in denen bei ihnen angestellte Ärzte tätig waren.
Bis März 1924 wurden insgesamt 32 dieser Ambulatorien genannten Arzthäuser für die Versicherten und ihre Familien eröffnet. Da diese Einrichtungen überaus rege in Anspruch genommen wurden, blieben sie auch nach Ende des Ärztestreiks erhalten und wurden sogar weiter ausgebaut.
Mehr zum ThemaAls jedoch der sogenannte Berliner Ambulatorienstreit 1928 nach langer juristischer Auseinandersetzung mit der Ärzteschaft seinen Abschluss fand, wurde der Betrieb der Kassenambulatorien durch gerichtliche Entscheidungen zunehmend eingeschränkt. Letztlich wurde er im Kontext der nationalsozialistischen Machtergreifung ab 1934 vollständig eingestellt.
Die Spuren dieser Episode haben in beiden Teilen Deutschlands lange nachgewirkt. In der Bundesrepublik eher negativ, wo es aufgrund dieser Erfahrungen, die als sozialistisch interpretiert wurden, nicht gelang, Alternativen zum einzeln und in der eigenen Praxis selbständig tätigen Arzt durchzusetzen. Zu dieser Haltung trug neben dem sowjetischen Modell einer staatlichen Gesundheitsversorgung auch bei, dass in der DDR eben im positiven Rückgriff auf die Weimarer Erfahrungen ein flächendeckendes poliklinisches Versorgungssystem aufgebaut wurde.
Ein entsprechender Befehl erging seitens der sowjetischen Militäradministratur bereits 1947. Trotzdem waren in den ersten zwei Jahrzehnten der DDR die frei praktizierenden Haus- und Fachärzte in der Mehrheit. Das Poliklinikwesen, wie es später in der DDR bestand, wurde im Wesentlichen erst in den 70er Jahren durch die massive Neueinrichtung von Polikliniken und Ambulatorien geformt.
Wendejahre & Einigungsvertrag
1989 wurden in der DDR 22.107 angestellte Allgemein- und Fachärzte gezählt. Sie verteilten sich auf 626 Polikliniken, 1.020 Ambulatorien sowie auf über 3.000 weitere, mit ein oder zwei Ärzten besetzte Standorte, die als staatliche Arztpraxis oder Arztsanitätsstelle klassifiziert waren. Zudem gab es 341 privat niedergelassene Ärzte.
In Westdeutschland erfolgte die ambulante Versorgung zur selben Zeit durch knapp 69.900 privat niedergelassene Mediziner, von denen etwa 80 Prozent in Einzelniederlassung und der Rest zu zweit oder zu dritt in Gemeinschaftspraxen tätig waren. Dieses System galt spätestens seit der Gesundheitsgesetzesanpassung von 1988 als reformbedürftig. So hatte die 1987 eingesetzte Bundestagskommission zur Strukturreform der Krankenversicherung unter anderem vorgeschlagen, „mit fachübergreifenden Gemeinschaftspraxen und Gesundheitszentren Organisationsformen zu bevorzugen, die die Nachteile der Einzelpraxis überwinden.“
Als aber im ersten Halbjahr 1990 die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten sehr rasch in eine schnelle Vereinigung überging, galt die eben noch in breiter Front als reformbedürftig herausgestellte Krankenversicherung plötzlich als grundsätzlich bewährt. Dabei hatte es auch auf westdeutscher Seite bei der SPD, sowie bei verschiedenen Krankenkassenverbänden durchaus Bereitschaft gegeben, Teile des Poliklinikwesens zu übernehmen. Zudem war die letzte DDR-Regierung parteiübergreifend bestrebt, als positiv empfundene soziale Errungenschaften in das gemeinsame Deutschland einzubringen.
Mehr zum ThemaInsgesamt wurden jedoch sämtliche Bemühungen um eine Synthese beider Gesundheitssysteme durch die rasante Eigendynamik des Einigungsprozesses untergraben. Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 sah daher die Übernahme des bundesdeutschen Systems zum schnellstmöglichen Termin vor.
Angesichts der realen Versorgungslage in den neuen Ländern musste man jedoch Polikliniken und Ambulatorien für eine Übergangszeit zulassen. In § 311 des SGB V in der Fassung des Einigungsvertrages wurde daher eine Regelung aufgenommen, die allen ambulanten Versorgungseinrichtungen auf dem Gebiet der DDR zunächst Bestandsschutz gewährte. Da gleichzeitig jedoch die ‚Niederlassung in freier Praxis‘ als Förderziel festgeschrieben wurde, war geplant, in den folgenden Jahren alle DDR-Ärzte zur privaten Niederlassung zu bewegen.
1991 Vorstand der KV Berlin
In der Folge überstieg die Zahl der auf dem Gebiet der DDR niedergelassenen Ärzte schon ein halbes Jahr später – im April 1991 – die Menge der noch in Polikliniken und Ambulatorien verbliebenen Mediziner. Zum Jahreswechsel 1991/92 lag die Niederlassungsquote bereits bei 80 Prozent. Die Ankündigung der Bundesregierung, dass spätestens 1995 mit den Polikliniken unwiderruflich Schluss sei, trug zu dieser Entwicklung ihr Übriges bei.
1992 Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium
Abwicklung & Entfristung
Die anhaltende Rechtsunsicherheit, finanzielle Schwierigkeiten sowie eine daraus erwachsende Entsolidarisierung der Mitarbeiter führten in der Folgezeit zu immer weiteren Niederlassungen. Ende 1992 hatten sich bereits 94 Prozent aller früheren DDR-Ärzte für die Selbständigkeit entschieden und sich niedergelassen. In Berlin und Brandenburg fiel diese Quote am niedrigsten aus. Ursache war eine gegensteuernde Politik, die ‚den Polikliniken eine faire Chance geben‘ (Berlin) und ‚zukunftsträchtige Einrichtungen nicht nur deshalb abwickeln wollte, weil sie im System der BRD nicht vorkamen.‘
Diese Haltung wurde über die 90er Jahre beibehalten und war vor allem mit der Person der von 1990 bis 1999 amtierenden Gesundheits- und Sozialministerin Dr. Regine Hildebrandt, verknüpft. Die SPD-Ministerin setzte sich intensiv – die Ärztezeitung nannte es ‘verbissen und unbelehrbar’ – dafür ein, ‘die DDR-Polikliniken nicht nur deshalb preiszugeben (…), weil sie im System der BRD nicht vorkamen.’ Primäres Ziel war, den bereits stattfindenden, ‘unsystematisch, überstürzt und widersprüchlich ablaufenden Prozess durch einen geordneten Wandel von Polikliniken in Gesundheitszentren’ zu ersetzen. Dafür wurde das Brandenburger Modell entwickelt.
Die aktive Unterstützung der Polikliniken beim Umstrukturierungsprozess setzte jedoch erst ab Februar 1991 mit der Gründung des Beratungsdienstes Gesundheitszentren Brandenburg ein. Zu einem Zeitpunkt also, als im Land bereits etwa 40 Prozent aller ambulant tätigen Mediziner in die Niederlassung gewechselt waren und der allgemeine Destabilisierungstrend die meisten Polikliniken bereits erreicht hatte. Das mit der Konzeptentwicklung beauftrage Institut ging entsprechend von einem „Nebeneinander von niedergelassenen und angestellten Ärzten“ aus, das sich auch „in vielen der ehemaligen Haupthäusern der Polikliniken beobachten“ ließ, wo „sich oft schon einige der Ärzte in ihren alten Behandlungsräumen niedergelassen [haben] oder beabsichtigen (…), diesen Schritt bald zu tun.“
Mehr zum ThemaParadoxerweise war es gerade dieser flexible Umgang mit allen Arten von Beschäftigungsmischformen, der das Brandenburger Modell später zum Vorbild der MVZ-Idee werden ließ. Zunächst war es aber ein schwerer Nachteil für die brandenburgische Gesundheitsversorgung, dass die Hilfen des Ministeriums zu spät bereitgestellt wurden, um noch spürbar in den Auflösungsprozess der Polikliniken und Ambulatorien eingreifen zu können. So konnten letztlich nur neunzehn Gesundheitszentren mit vierunddreißig Standorten gerettet werden.
Gleichzeitig setzte sich Regine Hildebrandt auch auf Bundesebene vehement dafür ein, die Betriebserlaubnis der Polikliniken trotz des Ablaufdatums im Einigungsvertrag über den 31.12.1995 hinaus zu erhalten. Die durchsetzungsstarke Ministerin erreichte so, dass die Bundes-SPD im Herbst 1992 die Forderung nach der dauerhaften Zulassung der Polikliniken zu einem wichtigen Eckpunkt während der Konsensverhandlungen über die erste gesamtdeutsche Gesundheitsreform machte. In der Konsequenz fand die sogenannte ‘Entfristung’ der poliklinischen Gesundheitseinrichtungen tatsächlich Eingang in das zum 1.1.1993 in Kraft getretene Gesundheitsstrukturgesetz (GSG). Dies gelang wahrscheinlich auch deshalb, weil ohnehin nur noch sehr wenige Polikliniken bestanden.
1992 Stadtrat für Gesundheit der Stadt Leipzig
Zum Zeitpunkt dieser Gesetzesänderung existierten insgesamt noch 343 Einrichtungen mit 1.574 Ärzten. Das entsprach – gegenüber dem Jahreswechsel 1989/90 – 20 Prozent aller Einrichtungen, aber nur noch knapp 7 Prozent der Ärzteschaft. Ein Großteil der Polikliniken arbeitete entsprechend nur noch mit einer Rumpfbesetzung. Folgerichtig verließen auch noch 1994/95 weitere Ärzte ihre Einrichtung. Erst das Verhältnis von 98,3 niedergelassenen zu 1,7 Prozent angestellten Ärzten kann daher als Endpunkt der Auflösung poliklinischer Strukturen gelten. Dem entsprach 1998 die Zahl von 336 angestellten Arbeitsverhältnissen nach § 311 SGB V, die ganz überwiegend auf die Bundesländer Berlin und Brandenburg konzentriert waren. Einzelne größere Einrichtungen waren daneben in Halle (Sachsen-Anhalt) und in Weimar (Thüringen) erhalten worden.