Neue Koalition – neue Prioritäten
Die rot-grüne Koalition, die im Herbst 1998 die Regierungsverantwortung übernahm, setzte gesundheitspolitisch von Beginn an auf ‘Wettbewerb um Qualität, Wirtschaftlichkeit und effizientere Versorgungsstrukturen.’ Unter dem Schlagwort der ‘Integrierten Versorgung’ sollte die starre Abgrenzung zwischen stationärem und ambulantem Sektor überwunden werden. Als Anregung diente das Gesundheitswesen der DDR, in dem die öffentliche und personelle Verbindung von Krankenhausmedizin und ambulanter Behandlung zentrales Prinzip gewesen war.
Auch für die ambulante Versorgung wurde der Regierungswechsel positiv bestimmend. Verschiedene kleinere Änderungen signalisierten deutlich, dass Polikliniken statt als Auslaufmodell als etwas Zukunftsfähiges betrachtet wurde. Diese Haltung wurde über das Wahljahr 2002 hinaus beibehalten. Nichtsdestotrotz kam es für viele überraschend, dass die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt neben der Einführung der Integrierten Versorgung gerade den Ausbau des poliklinischen Prinzips nach Brandenburger Vorbild zum Kernkonzept der ambulanten Versorgungsreform erklärte.
Ziel war vor allem, dadurch eine ‚gute Versorgung aus einer Hand‘ zu erreichen und ’neuartige Beschäftigungsverhältnisse für junge Ärzte‘ zu ermöglichen. Trotz des Bezuges auf die bestehenden Polikliniken waren jedoch die geplanten Einrichtungen als Teil eines alle Bereiche der gesetzlichen Krankenversicherung umfassenden Reformzusammenhanges deutlich anders konzipiert, als es die Namensgleichheit und die heutige Entwicklung vermuten lässt.
„In der ambulanten Versorgung können neben den freiberuflichen Ärztinnen und Ärzten Gesundheitszentren zusätzlich tätig werden.“
Dem ursprünglichen Konzept nach sollte der Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung in einen fachärztlichen und einen grundversorgenden Teil aufgespalten werden. Vor diesem Hintergrund verstand das Ministerium unter Gesundheitszentren Häuser mit ausschließlich in Vollzeit angestellten Ärzten nur der gynäkologischen, pädiatrischen, haus- und augenärztlichen Versorgung.
Von dem systemsprengenden Teil dieses rot-grünen Reformkonzeptes wurde in den Konsensverhandlungen mit der CDU/CSU schnell Abstand genommen. Dahingehend fand das Gesundheitszentrum als Rudiment des ursprünglichen Konzeptes unter geändertem Namen Eingang in den parteiübergreifenden Gesetzesentwurf vom August 2003. Unter dem Namen Medizinisches Versorgungszentrum wurde somit ab dem 1. Januar 2004 die Einrichtung poliklinischer Gesundheitszentren bundesweit ermöglicht und so die Entwicklung der wenigen übriggebliebenen DDR-Polikliniken zum Zukunftsmodell gesetzlich zementiert.
Als Unterschied zum ostdeutschen Konzept ist aber elementar, dass den Gesundheitszentren mit dem Einigungsvertrag explizit die kommunale, kirchliche oder freigemeinnützige Trägerschaft auferlegt worden war. Dementgegen wurden MVZ mit den Worten des gesundheitspolitischen Verhandlungsführers der Opposition, Horst Seehofer, gerade „nicht als Spielwiese für gescheiterte Sozialingenieure, nicht für die Sozialversicherungen und nicht für die öffentliche Hand“ zugelassen. Vielmehr war es hier gesetzgeberische Absicht, eine in jedem Fall unternehmerische, gleichzeitig aber primär an medizinischen Vorgaben orientierte Führung sicherzustellen. Träger von MVZ konnten daher alle Unternehmen und Einrichtungen sein, die bereits zum Kreis der Leistungserbringer im Gesundheitswesen gehören, sofern dem MVZ im medizinischen Bereich ein unabhängiger Ärztlicher Leiter vorsteht.
Mit dieser Regelung wurde es ab 2004 auch zulässig, dass Krankenhäuser und ihre Gesellschaften regelhaft Teil der ambulanten Versorgungslandschaft wurden. Intention dieser Regelung war – Bezug nehmend auf das übergeordnete Ziel des Ausbaus integrativer Versorgungsstrukturen – die sektorenübergreifende Zusammenarbeit zwischen ambulant tätigen Ärzten und Krankenhausmedizin zu verbessern.
Rasante Entwicklung schon
in den ersten Jahren
Tatsächlich wurden zunächst ausgesprochen kleine Versorgungszentren gebildet. Das Gros der Ärzte hatte 2004 und 2005 einfach bestehende Gemeinschaftspraxen in der Erkenntnis umgegründet, dass die stabilere Form der MVZ-Gesellschaft Investitionen erleichtert und Sicherheit für längerfristige Verträge gibt. Die Durchschnittsgröße aller gegründeten Versorgungszentren lag entsprechend, Anfang des Jahres 2005, bei nur drei Ärzten und stieg erst allmählich über fünf Ärzte je MVZ im Jahr 2010 auf gut sechs Ärzte heute.
Berücksichtigt man die enorme Spannbreite an Praxisvarianten, die sich von Anfang an hinter den drei Buchstaben M-V-Z verbirgt, ist klar, dass es viele kleine Einrichtungen gibt, die eher mit einer klassischen Gemeinschaftspraxis vergleichbar sind. Anderseits gibt es ebenso viele große MVZ mit zweistelligen Arztzahlen, die dem Ideal einer poliklinischen Versorgung sehr nahekommen. Dabei war von Beginn an das größte Politikum nicht die Zentrenbildung an sich, sondern die Frage, wie sich die nichtärztlichen Träger in die Versorgungslandschaft einpassen würden.
Die vom Gesetzgeber gewünschte und vom Ärzteverbandswesen mit großer Skepsis erwartete Einbindung der Krankenhausträger in die ambulante Versorgung blieb jedoch im großen Umfang zunächst aus. Diese Entwicklung kehrte sich erst 2008 um. Seitdem wurden jährlich mehr MVZ von Krankenhäusern als von Vertragsärzten neu gegründet. Im Bundesdurchschnitt liegt der Anteil der MVZ, an denen ein Krankenhaus als Träger beteiligt ist, jedoch seit mehreren Jahren stabil bei etwa 40 Prozent. Als Gründergruppe genauso relevant sind hier nach wie vor die Vertragsärzte der haus- und fachärztlichen Versorgung, die – oft ausgehend von einem fachlichen Versorgungsansatz für spezielle Krankheitsbilder – das notwendige ärztliche Team in einem MVZ zusammenbringen.
Die insgesamt größte Gründungsaktivität gab es 2005 bis 2007 mit im Schnitt rund 300 Neugründungen pro Jahr. Damit lag die Zahl der MVZ bereits vier Jahre nach ihrer Zulassung bei über tausend. Mit diesem Erfolg hatten auch die beteiligten Politiker*innen letztlich so nicht gerechnet. Nicht ohne Grund wird die ihrerzeit zuständige Gesundheitsministerin Schmidt aus dem Jahr 2003 stets mit der zurückhaltenden Einschätzung zitiert, dass die MVZ dann ein Erfolg seien, wenn die Überschriften in den Zeitungen lauten ‚500 MVZ in Deutschland‘.
Mehr zum ThemaIn den Jahren ab 2012 war dann vielfach von einer ‚Sättigung des MVZ-Marktes‘ die Rede – wobei natürlich auch 64 (2013) oder 67 (2014) MVZ-Neugründungen bedeuten, dass weiterhin in nicht unerheblichem Maße zusätzliche MVZ entstanden sind. Allerdings stimmt, dass viele Träger – sowohl bei den Ärzten als auch bei den Krankenhäusern – möglichst früh die Möglichkeit genutzt hatten, und dass daher davon auszugehen war, dass sich die Gründungszahlen langfristig auf dem Niveau von gut einer Neugründung pro Woche einpegeln würden.
„Wir sind auf einem guten Weg, eine Harmonisierung zwischen Einzelpraxen und MVZ hinzubekommen.“
Dieser Trend wurde jedoch durch den Gesetzgeber abrupt unterbrochen, als er mit dem GKV-VSG, das am 23. Juli 2015 in Kraft trat, einen neuen Gründungsboom auslöste, der sich mit leichter Zeitverzögerung vor allem 2016 und in den Folgejahren in der Statistik widerspiegelt. Ursache war die Entscheidung des Gesetzgebers, die Vorschrift, dass ein MVZ zwingend fachübergreifend sein müsse, aus dem § 95 SGB V ersatzlos zu streichen. Seitdem ist das MVZ nunmehr in seinen Mindestanforderungen definiert als Einrichtung, in der mindestens zwei Ärzte zusammenarbeiten. Damit wurde das MVZ als Praxisorganisationsform auch für Ärzte und Träger interessant, denen der vorherige Zwang zu fachübergreifender Kooperation zu aufwändig beziehungsweise zu unattraktiv erschien.
Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass entgegen der Trends der Vorjahre insbesondere die Vertragsärzte als Trägergruppe wieder in den Vordergrund traten. Tatsächlich waren sie es – mit allein 210 Neugründungen in 2016 – die für den besonders hohen Anstieg der Gründungsdynamik ursächlich waren. Ohne dass sich dies mit den verfügbaren Zahlen klar belegen lässt, ist davon auszugehen, dass hier in großer Zahl bereits bestehende fachgleiche Gemeinschaftspraxen in entsprechende MVZ umgewandelt wurden.
Immer wieder Änderungen durch
den Gesetzgeber
Dass der rechtliche Rahmen der MVZ nach 2004 durch verschiedenste Gesundheitsminister weiterentwickelt wurde, ist eine Bestätigung ihrer Grundidee. Tatsächlich ist die beständige Fortentwicklung der MVZ-Gesetzgebung die Antwort auf den Wandel, der die Ärzteschaft erfasst hat und der dazu führt, dass die aktuelle Mediziner-Generation mit deutlich verändertem Selbstverständnis ihren Beruf ausübt. Dabei greift der Gesetzgeber auch die Patientenperspektive auf, in der es letztlich nicht ausschlaggebend ist, in welcher Struktur Ärztin/Arzt tätig ist, solange Praxis und Behandlung gut organisiert sind und die Versorgungsqualität stimmt.
(1) Ein erstes großes Reformgesetz gab es unter der Federführung von Ulla Schmidt bereits in 2006 (VÄndG), mit dem für zulässig erklärt wurde, dass Klinikärzte auch ambulant in MVZ tätig werden dürfen. Damit wurde das MVZ endgültig zu einem Bindeglied zwischen der stationären und der ambulanten Versorgung.
(2) Unter Minister Daniel Bahr (FDP) wurde im Rahmen des Versorgungsstrukturgesetzes (VStG) ab 2012 der Kreis der zulässigen Träger von MVZ eingeengt, gleichzeitig aber die Altersgrenze für Ärzte abgeschafft. Dies führte dazu, dass neben jungen Ärzten zunehmend auch ältere Ärzte nach Beendigung ihrer Praxistätigkeit mit weniger Bürokratie und oft in Teilzeit angestellt in MVZ arbeiten. Auf die Art bleibt deren Erfahrung und fachliche Expertise in der Versorgung erhalten.
(3) Anschließend wurde das Gesundheitsministerium von Hermann Gröhe (CDU) übernommen. Im Rahmen des Versorgungsstärkungsgesetzes (VSG) wurde im Juli 2015 die Voraussetzung der fachübergreifenden Tätigkeit gestrichen. Seitdem gibt es auch sogenannte fachgleiche MVZ, in denen mehrere Ärzte nur einer Fachrichtung kooperieren. Nach wie vor ist aber die überwiegende Mehrheit fachübergreifend aufgestellt. Eine Ausnahme stellt der zahnärztliche Bereich dar.
(4) In Verantwortung des amtierenden Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) wurde mit dem TSVG in 2019 ein weiteres Reformgesetz auf den Weg gebracht, mit dem insbesondere der Herausforderung der steten Zunahme der Zahl reiner Zahn-MVZ durch Beschränkung der Gründungsmöglichkeiten für Nicht-Zahnärzte begegnet wurde.
Trotz aller politischer Differenzen und ideologischen Vorbehalte, die es zu diesem Thema nach wie vor gibt, kann daher die von der rot-grünen Regierung mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GKV-GMG) im Jahr 2003 angestoßene Entwicklung als unumkehrbar gelten.
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